Hüttel-Dorf oder liberale Weltstadt?
© APA/Herbert Pfarrhofer
Oans, zwoa! Früher lebte man in der Hauptstadt des urbanen Lebensstils. Heute kommt man in Tracht und Lederhose aus der Provinz, um in Wien die „Hütten-Gaudi” zu erleben.
DESTINATION Peter Aigner 04.11.2016

Hüttel-Dorf oder liberale Weltstadt?

Neues Biedermeier und Heimat-Kult als „Anker” in rauen Zeiten? Eine Reflexion über Wiens Hütten-Jahreszyklus.

Gastkommentar ••• Von Peter Aigner

WIEN. Die Verhüttelung Wiens schreitet voran. Was mit dem Eistraum und seinen „Almhütten” im Jänner beginnt, setzt sich im Frühjahr und Sommer nahtlos mit den rustikalen Gastro­standln von Steirerfest und Filmfestival fort, um im Herbst und Winter seine Fortsetzung auf der Wiesn im Prater, verkitschten Christkindlmarkt-Hütten und Punsch-Ständen zu finden.

Grillsaison is’!

Jetzt also auch noch Wintergrill-Hütten am Donaukanal. Womit sich der Hütten-Jahreszyklus endgültig schließt. Touristiker jubeln ob steigender Übernachtungszahlen – aber transportieren wir damit das richtige Image? Schuh-plattelnde, jodelnde Großstädter, dauerfett von Jägermeister & Co? Sind Brauchtum und Folklore nicht passender und authentischer dort, wo sie hingehören – am Berg …?

Wo bleibt das Urbane …

Früher lebte man in der Großstadt des urbanen Lebensstils, der avantgardistischen Architektur, des Designs, der zeitgeistigen Kulturszene und des kosmopolitischen Flairs wegen. Heute kommen sie in Tracht und Lederhose aus der Provinz, um in Wien „City-Hütten-Gaudi” in Bettel-Alm & Co zu erleben, während jede beliebige Kleinstadt westlich des Semmering sich großstädtischer präsentiert und im Stadtbild mehr Modernität ausstrahlt als die Bundeshauptstadt, die so gern eine Weltstadt wäre.

… und Progressive …

Vorbei die Zeiten, als im ORF progressive Formate à la „Musicbox”, „Ohne Maulkorb” oder „Radio Aktiv” zeitgenössischer Popkultur eine Plattform boten.

… im Hirschgeweih-Ambiente?

Heute sind Retro, Heimat-Kult und neues Biedermeier angesagt, liefern Gabalier, Glanz & Co den Lifestyle-Soundtrack für Digitalisierungsverlierer und Globalisierungsgegner – für die, die früher der Mittelstand waren. Die, die zu kurz kommen, die Zukunftsängste haben, die in einer immer komplexeren Welt orientierungslos sind und sich in der eigenen „Hütte” – mit Hirschgeweih an der Wand – zunächst nach der Idylle und Übersichtlichkeit von früher sehnen und später in den Echokammern der Sozialen Medien radikalisieren – auf der Suche nach neuen Helden, unfähig zum Dialog und dankbar für die Parolen der politischen Rattenfänger von rechts, die Hass und Zwietracht säen, Gott für sich vereinnahmen und den Enttäuschten den Bürgerkrieg prophezeien.

„The Times They Are A-Changin’”, sang einst Bob Dylan. Der Mann bekam heuer den Literatur-Nobelpreis. Ein Lichtblick in düsteren Zeiten.

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