Griechenland-Thema verstellt den Blick
© Martina Draper; Wiener Börse/Studio Joachim Haslinger; Wiener Privatbank; Panthermedia.net/crstrbrt
FINANCENET 10.07.2015

Griechenland-Thema verstellt den Blick

Halbwertszeit Der ATX liegt etwa die Hälfte unter seinem Allzeithoch in 2007; die letzten Jahre waren anstrengend, darin sind sich Börse-Beobachter wie Wolfgang Matejka und Christian Drastil (li.) einig. Dabei verfügt Wien über Weltmarktführer und sah zuletzt ein starkes Umsatzplus, so Börsechefin Birgit Kuras.

Wien. Verwegen, die Idee ausgerechnet knapp nach 9/11 mit einer neuen Zeitung zu starten – wobei, so etwas sucht man sich nicht freiwillig aus. Verwegen vielleicht auch die Idee, Marketing, Medien, den Bereich Retail – erweitert um Finanzen und Immobilien (in 2006), Automotive, Technologie, Gesundheitswesen – in einer einzigen Tageszeitung kompakt anbieten zu wollen – das Konzept fand und findet Anklang (siehe z.B. Seite 39).

Verwegen scheint so manchem Anleger vielleicht auch die Idee, in österreichische Aktien anzulegen. Zugegeben, der Leitindex ATX hat seit den Höhenflügen in 2007 stark eingebüßt. „Die vergangenen Jahre waren im ATX durchwachsen, in der Betrachtung seit 2001 liegt er – man will es aus heutiger Sicht kaum glauben – inklusive Dividenden aber immer noch besser als die Kollegen DAX, Dow, FTSE und als der polnische WIG 20, der oft als Konkurrent genannt wird, was CEE-Themen betrifft”, sagt Börsenkenner und -Kommentator Christian Drastil, der Macher des Börse Social Network.

Von globaler Brokergunst …

Im Zeitraffer, was seit 2001 geschah: Abgesehen vom Paukenschlag 9/11: der Ölpreisanstieg auf Re­kordniveau in 2008, was die OMV Richtung All-time-high klettern lässt, dann das CEE-Wunder, das Österreich erfasst und die Banken durchstarten lässt – und das Allzeithoch des Index erklärt, so Finanzexperte Wolfgang Matejka: „Die Gewinne lagen in dieser Phase aber immer auf den Erwartungen drauf, d.h. der Markt war trotz des Anstieges nie wirklich teuer.” Etliche Emissionen folgen: RBI, Strabag, Post, Kapsch, SBO, Zumtobel, … Mit „enor­mem internationalen Brokerinteresse, dementsprechend international die Nachfrage, CEE-getrieben auch die Preise”.
Aber es hat nicht ewig gewährt: Die (hausgemachten) Immobilienaktien-Crashs, Lehman und der ganze Rest. Keine lustige Zeit also, eine „gewaltige Belastungsprobe für Banken und Unternehmen”. Und aus dem CEE-Bonus wurde leider ein „immer stärker adressierter CEE-Malus, SEE marschierte komplett ins Off”, so Matejka in der gemeinsamen Rückschau mit medianet. „Auch wenn aktuell Griechenland medial alles andere verdrängt, war es doch vor allem das hohe CEE-Exposure, das in Wien in den letzten Jahren auf die Kurse drückte”, bestätigt Drastil. Die Geschäftsmodelle insbesondere von RBI, Erste, Immofinanz und VIG haben einen hohen CEE-Anteil.

… bis zur Regulierungswut

Bankenrettungsprogramme, teure Garantien ziehen sich seit 2007 wie Silberfäden durch die Monate. „Die darauf folgende Regulierungswut hat unserer Börse wohl am meisten geschadet”, meint Matejka, der darin eine der Hauptursachen für die Underperformance im Prozess der Erholung nach 2009 sieht. „Selbst der AMAG-IPO (im April 2011, das erste Börsendebüt seit 2007) war zu Beginn deutlich unter Druck geraten.” Auch die Telekom Austria mit der „Übernahme” samt ÖIAG befinden sich in einem „Tief”. „Die jüngere Vergangenheit brachte wenig Posi­tives, die Bilanzen aller 20 ATX-Unternehmen wiesen kumuliert für 2014 sogar einen Verlust aus”, erinnert sich Drastil ungern. Nach dem Börseboom in den Nullerjahren und dem anschließenden Rückfall liegt der ATX nun bei weniger als der Hälfte seines Rekordwerts von knapp 5.000 Zählern, der fast auf den Tag genau vor acht Jahren markiert wurde. Einig sind sich beide darin, dass es ziemlich anstrengende Jahre waren, es aber auch sehr schöne Erlebnisse gab, tolle Performance, tolle Leute, tolle Unternehmen – Beispiel das Post-IPO im Jahr 2006.
Wie könnte es weitergehen? „Ich hoffe, dass die Wiener Börse eigenständig bleibt und es wieder etwas politischen Rückenwind gibt. Schon kleine Maßnahmen könnten dem Börseplatz zu mehr Glanz verhelfen. Von der Handelsinfrastruktur her agiert die Wiener Börse ,State-of-the-art' und zählt samt Abwickler OeKB zu den Leadern in Europa”, streut Drastil dem Wiener Platz Rosen.
„Wir sind gerade dabei, uns durch die Griechenland-Thematik den positiven Blick auf Konjunktur und Wachstum zu zerstören”, bedauert Matejka. In CEE hat sich „ein stärkeres Konjunkturbild still und leise entwickelt, und auch in Europa stehen die Grundvoraussetzungen auf Plus”. Der Euro ist weiter tief, Öl wieder im Rückwärtsgang, beides hilfreich – und die EZB steht mit ihrem Bondkaufprogramm erst am Beginn. „Auch die Banken stehen weit sicherer da, und international tätige Unternehmen berichten positiver als erwartet. Sollten die politischen Themen endlich abgeschlossen werden, dann sollte sich auch Österreichs Börse aus dem ,Leo' wieder herausbewegen können, die Unternehmen und auch die verbliebenen Investoren hätten es sich verdient.”

Heimatmarktprinzip gilt

Damit rennt Matejka bei Börsechefin Birgit Kuras sicher offene Türen ein: „Wir haben in Österreich wirklich viele, äußerst erfolgreiche Unternehmen, die international agieren und teils sogar Weltmarktführer sind. Die Expansion großer Austro-Konzerne nach CEE und auf den Weltmarkt wurde nicht zuletzt durch den IPO ermöglicht”, so Kuras nicht ohne Stolz. „Unternehmen sind an ihrer Heimatbörse am besten bekannt und aufgehoben.”
Die Unternehmen würden analysiert, es gebe Marketmaker, die Medien berichteten häufiger. „Wir kümmern uns intensiv und persönlich um die heimischen Unternehmen. Darüber hinaus ist die Börse Wien auch sehr international, insbesondere hinsichtlich der Investoren und Handelsteilnehmer.”(lk)

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