Gebietsschutz wackelt kräftig
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Innerhalb der Apothekerschaft herrscht derzeit Aufregung über ein neues Urteil des Europäischen Gerichtshofs.
HEALTH ECONOMY Ina Karin Schriebl und Martin Rümmele 08.07.2016

Gebietsschutz wackelt kräftig

Der Europäische Gerichtshof hat die Bedarfsprüfung für die Apotheken überraschend in Teilen aufgehoben. Die Branche ist in Aufruhr, die Folgen sind noch nicht abschätzbar.

••• Von Ina Karin Schriebl und Martin Rümmele

WIEN. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in einem aktuellen Erkenntnis Teile der sogenannten Apothekenbedarfsprüfung in Österreich gekippt – und damit indirekt den Gebietsschutz der Pharmazeuten. Durch das Urteil fällt die für die Apotheker definierte „Existenzgefährdungsgrenze” von 5.500 zu versorgenden Personen ab sofort weg. „Diese Entscheidung ist ein schwerer Schlag für die österreichischen Apotheken und damit für das gesamte Gesundheitssystem”, betonte der Präsident des Apothekerverbandes, Christian Müller-Uri, am Dienstagabend nach einer Krisensitzung in einem Rundschreiben an die Apotheker.

„Die Auswirkungen auf das Apothekensystem sind durch dieses völlig überraschende Ergebnis in seiner vollen Tragweite noch gar nicht abschätzbar. Fest steht jedenfalls, dass nach derzeitigem Stand bei allen laufenden und künftigen Verfahren die 5.500 Personengrenze keine Anwendung findet”, betont der Chef der selbstständigen Apotheker. Diese Situation sei für den Apothekerverband untragbar, schreibt Müller-Uri: „Wir werden uns daher mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln für eine Neuregelung der Bedarfsprüfung einsetzen. Unser Ziel ist es, eine möglichst bedarfsorientierte Verteilung der Apotheken sicherzustellen.”

„Ernste Situation”

Ähnlich argumentiert auch Apothekerkammer-Präsident Max Wellan in einem Rundbrief: „Wir sind uns des Ernstes der Situation bewusst und arbeiten bereits intensiv mit Verfassungs- und Europarechts­experten an konkreten Vorschlägen für eine Neuregelung; vom Gesundheitsministerium wurde uns dazu bereits Unterstützung ­signalisiert.”

Hintergrund ist eine Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 2014. Damals entschieden die Richter, dass die Bedarfsregelung rechtswidrig ist, weil die Konzessionsvoraussetzung der starren Grenze von 5.500 von den Nachbarapotheken weiterhin zu versorgenden Personen keine Unterschreitungsmöglichkeit im Fall örtlicher Besonderheiten vorsieht.

Erneute Prüfung

Die Begründung des Urteils legte den Schluss nahe, dass unter derartigen örtlichen Besonderheiten ländliche und abgelegene Gebiete außerhalb der Versorgungsgebiete bestehender Apotheken zu verstehen sind, aber die Grenze von 5.500 zu versorgenden Personen auf städtische Gebiete mit vorhandenen Apotheken weiterhin Anwendung finden kann.

Nun hat das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich den EuGH allerdings erneut befasst und um Klarstellung ersucht, ob die Entscheidung auch für städtische Gebiete anzuwenden ist. Der EuGH stellte nun klar, dass es ­generell und nicht nur beschränkt auf ländliche und abgelegene Gebiete möglich sein muss, von der starren Grenze von 5.500 zu versorgenden Personen abzugehen.
Die Apotheker kommen damit juristisch gleich mehrfach unter Druck: Wie berichtet, hat die Drogeriemarktkette dm im Frühjahr einen Individualantrag beim Verfassungsgerichtshof eingereicht, um in Zukunft rezeptfreie Medikamente anbieten zu können. Auch Lebensmittelketten wollen OTC-Produkte anbieten. Die Ketten argumentieren mit dem im Vorjahr liberalisierten Versandhandel. Die Entscheidung der VfGH wurde aufgrund der Aufhebung der Bundespräsidentenwahl vorerst zurückgestellt, könnte aber in den nächsten Wochen bereits fallen.

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