Vorteile von Industrie 4.0 vor allem abseits der Produktion
© Panthermedia.net/Irochka
INDUSTRIAL TECHNOLOGY britta biron 01.04.2016

Vorteile von Industrie 4.0 vor allem abseits der Produktion

Der entscheidende Hebel, um von der Digitalisierung zu profitieren, liegt in der Kontrolle und Analyse der Daten.

MÜNCHEN. Welches wirtschaftliche Potenzial bietet Industrie 4.0? Die Unternehmensberatung Oliver Wyman hat 60 international tätigen Unternehmen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich, Großbritannien und Nordamerika analysiert und kommt zu folgendem Schluss: „Bis zu 1,4 Billionen US-Dollar an zusätzlicher, jährlicher Marge sind dank der ‚Digitalen Industrie' weltweit im Jahr 2030 zu heben”, sagt Thomas ­Kautzsch, Partner bei Oliver Wyman und Leiter des globalen Beratungsbereichs Automotive und Manufacturing Industries.

Insgesamt neun unterschiedliche Werthebel wurden in der Studie identifiziert – von der Steigerung der F&E-Effizienz bis zur Optimierung des Produktionsnetzwerks.
„Die größten digitalen Werthebel liegen allerdings gar nicht, wie vielfach unterstellt, in der Technologie oder nur in einer Flexibilisierung der Fertigung, sondern in teilweise produktionsfernen, indirekten Bereichen wie Vertrieb, Preissetzung, Planung, Controlling oder Einkauf.”
Ein entscheidender Einfluss darauf, ob und wie sehr ein Unternehmen von der Digitalisierung profitieren wird, liegt im Bereich Big Data. Von allen untersuchten Branchen spielt dieser Faktor im Automobilsektor die größte Rolle.

Datenhoheit entscheidet

„Spannend wird vor allem die Frage, wer sich das zusätzliche Wertpotenzial einverleibt. Denn das Phänomen Industrie 4.0 verändert in hohem Maße das Machtgefüge zwischen den an der Wertschöpfung beteiligten Unternehmen”, sagt Kautzsch.

Wer betreibt und optimiert in Zukunft die Produktionsanlagen z.B. eines Automobilherstellers? Der Lieferant, der Roboter, der Automobilhersteller selbst oder aber der Zulieferer der Software? Und wem gelingt es, die Betriebsdaten so zu analysieren, damit daraus konkret anwendbare Handlungsempfehlungen und Prozessoptimierungen abgeleitet werden können?
„Diese Fragen rund um dieses sogenannte Applikations-Know-how entpuppen sich als wahre Kernthemen von Industrie 4.0”, sagt Tobias Sitte, Co-Autor der Studie und ebenfalls Partner bei Oliver Wyman.
Auf weltweit 600 Mrd. USD Margenzuwachs beziffert die Untersuchung dieses Potenzial im Jahr 2030; als zweitstärkster Effekt schlägt die Flexibilisierung der Fertigung samt individualisierter Massenfertigung mit 300 Mrd. USD zu Buche. Dieses Thema bewegt insbesondere Klein- und Miniserienfertiger aus der Luftfahrt- oder der Bahnindustrie.
„Und hier liegt eine Riesenchance für Zulieferer, ihre Kontrolle über die Wertschöpfung auszuweiten”, so Sitte weiter. Zur Erklärung nennt er ein Beispiel aus der Möbelindustrie: Dank Digitalisierung kann der Kunde eines Küchenherstellers heute über ein 3D-Modell beim Händler seine Wunschküche zusammenstellen. Die Basis für solche maßgeschneiderte Serienproduktion in Losgröße 1 sind Innovationen bei einem Hersteller von Holzbearbeitungsmaschinen. Diese werden über eigene Software­lösungen so am Kunden-Front-End vorkonfiguriert, dass sie von der Bestellauslösung bis zur Logistik einen durchgängig individualisierten Fertigungsprozess ermöglichen.
Der Vorteil für den Maschinenhersteller: Er befreit sich damit aus seiner bisherigen Nischenposition. Denn indem es ihm gelingt, den gesamten Wertschöpfungsprozess zu integrieren, kann er als Dienstleister für Küchenhersteller branchenweit einen Mehrwert schaffen.

Noch viele Hindernisse

Für diesen Kampf um die Datenhoheit sehen die Manager aus dem Maschinen- und Anlagenbau ihre Unternehmen bisher aber erst unzureichend gerüstet, wie die Studie ebenfalls zeigt (siehe Grafik).

Befragt nach den größten Hindernissen der Digitalisierung, gaben ausnahmslos alle Entscheider an: Es fehlt an „Kreativität, um über bestehende Betriebs- und Geschäftsmodelle hinauszudenken”.
86% vermissen in ihren Unternehmen zudem „interne Software- und Datenkompetenzen”, und 84% meinen, es fehle an „Know-how bei der Analyse großer Datenmengen” sowie der Ableitung konkreter Handlungsempfehlungen.

Rasches Handeln in nötig

Sitte unterstreicht den Handlungsbedarf, die digitale Transformation aktiv anzugehen. Und das betrifft nicht allein die Maschinen- und Anlagenbauer: „Alle Fertigungs­unternehmen sind gut beraten, jetzt ihre Aktivitäten zu orchestrieren und den vielen Einzelprojekten einen Rahmen und eine Richtung zu geben.”

Denn klar ist auch: Industrie 4.0 wird neue Spieler auf den Plan rufen und den Wettbewerbsdruck noch weiter erhöhen.
Bedeutet das den Siegeszug der Onlinegiganten auch im Industrieumfeld? Thomas Kautzsch hält ein solches Szenario für unwahrscheinlich: „Ähnlich wie es Microsoft in den 2000er-Jahren nicht gelang, sich beim Thema ‚Offene Automatisierung' zu positionieren, werden es Google oder Amazon in der nächsten Dekade nicht schaffen, die ‚Digitale Industrie' im B2B-Umfeld zu erobern”, ist er überzeugt.
Den etablierten Industrieprofis kommt vor allem zugute, dass ihre Anwendungen meist sehr speziell sind. Ein Massenmarkt, auf den es die endkundenbezogenen Online-Konzerne in der Regel abgesehen haben, ist in den vorgelagerten Feldern noch nicht zu finden.

BEWERTEN SIE DIESEN ARTIKEL

TEILEN SIE DIESEN ARTIKEL