Der Denkzettel als Selbstzweck
PRIMENEWS sabine bretschneider 18.03.2016

Der Denkzettel als Selbstzweck

Die Folgen ökonomischer Verunsicherung und politischer Vertrauenskrise: Polit-Rabauken wie Trump werden wählbar.

Leitartikel ••• Von Sabine Bretschneider


EIN CHANGE HALT. The Donald gewinnt und gewinnt und gewinnt. Durfte man bis vor Kurzem noch behaupten, eine Vorwahl sei eben nur eine Vorwahl und unterliege deren Besonderheit – nur die bis in die Knochen Durchpolitisierten gehen wählen –, so gilt das jetzt nicht mehr. Trumps Antreten bricht alle früheren Caucus-Rekorde der Republikaner.

Was treibt die US-Wähler dazu, den Unwählbaren zu wählen? Hypothese eins: Der Frust der Zu-kurz-Gekommenen bzw. Vermeintlich-zu-kurz-Gekommenen ist inzwischen so groß, dass deren einziger Antrieb der Denkzettel ist. Für die Regierung, die Politiker, das Establishment, die da oben … Hypothese zwei: Die Verzweiflung der Many-Jobs-No-Income-Bürger ist so groß, dass der vermeintliche Change, der vor Jahren versprochen wurde und nie passiert ist, jetzt per Kickstart ausgelöst werden soll. Wobei die Veränderung je nach Lust und Laune ausgelegt werden darf – Hauptsache, es wird endlich anders.
Dabei geht es augenscheinlich auch nicht um den Wunsch, jemand möge die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verbessern, inklusive ordentlicher sozialer Steuerungsmaßnahmen. Denn dafür stünde ja der Demokrat Sanders. Wohl geht es eher um die Wiederbelebung der Perspektiven für die sprichwörtlichen Tellerwäscher. Hypothese drei: Der Stillstand, ausgelöst durch das Hickhack eines Präsidenten ohne Parlamentsmehrheit mit Senat und Kongress, hat einen Zorn auf das System entstehen lassen, der die Lust auf den starken Mann wiederaufleben lässt. Und um diesen Denkzettel auch nachhaltig wirken zu lassen, wählt man dann einen wie Trump, der sein materielles Wohlsein genau auf diesen Benachteiligten, Zu-kurz-Gekommenen und Perspektivlosen aufgebaut hat?
Die Alternative ist die demokratische Kandidatin, die – nach Jahrzehnten im politischen Betrieb – den republikanischen Law and Order-Gedanken besser verkörpert als deren eigener Rabaukenkandidat. Ihr Vorteil ist ihr Nachteil: Clinton ist eine Stimme der Vernunft, pragmatisch, kompromissbereit und erfahren, mehr Mitte als links. Einerseits wird sie keine Revolution ausrufen – andererseits wird ihr unter Umständen mehr Ruhe und Ordnung aufgezwungen werden, als ihr lieb ist. Die Republikaner mit ihrer satten Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments haben in den vergangenen Jahren eine Politik der Fast-Totalblockade des Change-Initiators Barack Obama betrieben. Ein ähnliches Schicksal könnte Clinton blühen – beste Voraussetzung dafür, dass dann alle Dämme brechen und der nächste radikale Schreihals, der sich der Wahl stellt, ein direktes Ticket für den Einzug ins Weiße Haus bekommt.

Schwenk nach Deutschland

Ein Nachtrag zu den deutschen Landtagswahlen: „Der sich bis in gemäßigte konservative Kreise ausbreitende Hass ist zutiefst beunruhigend”, wurde der frühere SPD-Bundesvorsitzende Kurt Beck vergangene Woche in einem Interview mit der Zeit zitiert. „Wir haben alle noch nicht gelernt, dass wir unsere Demokratie heute offensiver verteidigen müssen als noch vor einem Jahr. Gefährlich ist die bis weit ins bürgerliche Lager verbreitete Auffassung, AfD und Pegida zeigten es denen da oben mal, aber wirklich groß würden die schon nicht.” Ja, wohin man schaut …

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