Mit dem Essen spielt man nicht
© dpa-Zentralbild/Jens Büttner
PRIMENEWS 19.02.2016

Mit dem Essen spielt man nicht

Am 28. Februar entscheiden die Schweizer über ein Spekulationsverbot mit Nahrungsmitteln. Ein Ja wäre sensationell, aber warscheinlich kontraproduktiv.

••• Von Wolfgang Schimmel


Wenn Preisentwicklungen scheinbar grundlos aus dem Ruder laufen, dann, so suggeriert der Hausverstand, werden wahrscheinlich „die Spekulanten” am Werk sein. Diese Abkürzung für die Beurteilung eines stets deutlich komplexeren Phänomens ist im Allgemeinen kein gesellschaftliches Problem, führt sie doch höchstens zu unzureichend fundierten individuellen Anlageentscheidungen. Es sei denn, breite öffentliche Entrüstung käme ins Spiel, in deren Woge sich die Politik versucht sieht, aktionistisch in Marktmechanismen einzugreifen. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn es um hohe Preissteigerungen bei Agrarrohstoffen und anderen Lebensmitteln geht – würden, dem simplen Erklärungsmodell folgend, in diesem Fall doch „die Spekulanten” von Knappheit und Hunger profitieren. Eine Wiederauflage dieser Erscheinung erlebten wir zuletzt nach der Periode zwischen 2006 und 2008, als Getreide und Soja stetig teurer wurden und in der Spitze etwa zweieinhalbmal so viel kosteten wie Anfang 2006 oder auch 2011, als es eine weitere, wenn auch nicht ganz so heftige Preisrallye bei Agrarrohstoffen gab.

Finanzialisierung der Rohstoffe?

Im Verlauf dieser Marktbewegungen kam es zu Massenprotesten in Entwicklungsländern, Aktivisten unterschiedlicher Organisationen fanden einen Resonanzboden für Anti-Spekulations-Kampagnen, und selbst manche Ökonomen lieferten zusätzliche Munition in Form scheinbar plausibler Theorien – darunter etwa jene von der „Finanzialisierung der Rohstoffe” durch die damals gerade in Mode gekommenen Finanzinstrumente auf der Basis von Rohstoffindizes, die, so die Hypothese, eine Preisblase geschaffen hätten. Auch die für den 28. Februar dieses Jahres angesetzte Volksabstimmung in der Schweiz über die sogenannte Spekulationsstopp-Initiative hat damals ihren Ausgang genommen. Betrieben wird sie unter der Federführung der Schweizer Jungsozialisten von einer Regenbogenkoalition, in der sich neben Sozialdemokraten und Grünen, konfessionellen Gruppen und Bio-Initiativen auch die im gegebenen thematischen Zusammenhang üblichen Akteure wie die lokalen Ableger von Attac und der Occupy-Bewegung finden. Ziel der Initiative ist ein sehr weit gehendes und in der Bundesverfassung verankertes Verbot für Finanzinstitutionen aller Art, in Finanzinstrumente zu investieren, die sich auf Nahrungsmittel und Agrarrohstoffe beziehen. Die knappen Argumente: angebliche Preisverzerrung durch Spekulation in Verbund mit der Moralkeule: „Mit Essen spielt man nicht!” Das ist weder neu und noch nicht einmal versucht ökonomisch begründet aber eben so simpel, dass es ankommt: In der zweiten Jännerwoche 2016 prognostizierte das Marktforschungsinsitut GfK bereits ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Gegnern und Befürwortern. Wie irrational ein Investitionsverbot in Rohstoffe in Wahrheit wäre, sieht man erst, wenn man sich auf eine fundierte Betrachtung von Fakten und Forschungsstand in der Sache einlässt.

Börse erlaubt Risikotransfer

Thomas A. Hieronymus, von 1949 bis 1981 Professor für Ökonomie an der University of Illinois und profunder Kenner der Rohstoff-Börsen, fasste in „Effects Of Futures Trading On Prices” schon 1960 zusammen, was seither in zahlreichen Studien erhärtet wurde: Der standardisierte Handel von Rohstoffen an geregelten Futures-Börsen trägt maßgeblich zur Preisstabilität bei, senkt also die Volatilität der Preise. Dafür spricht etwa die Tatsache, dass es Produzenten und Nachfrager waren, Bauern, Mühlen oder Bäcker also, welche die Rohstoffbörsen gegründet haben und am Leben erhalten. Und warum? Weil Rohstoffpreise seit jeher großen Schwankungen durch wechselnde Umweltbedingungen unterliegen und es daher ein nicht unbeträchtliches Risiko darstellt, Rohstoffe für einen späteren Verkauf zu lagern bzw. zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft verfügbar zu haben. Dieses Risiko können Produzenten und Verbraucher via Warenterminbörsen auslagern.

Aber nur sofern sie dort auch eine ausreichend große Anzahl von „Spekulanten” finden, die bereit sind, das Risiko im Austausch für eine Prämie zu übernehmen. Oder in aller Kürze: Ohne Spekulation gibt es keine ausreichende Liquidität für einen Terminhandel mit ­Futures – ebenso wenig übrigens wie ohne das Interesse der Realwirtschaft an der Absicherung gegen künftige Preisschwankungen.

Zwiebelbann & Börsenschließung

Dem zum Trotz gab es in der Geschichte des Rohstoff-Terminhandels immer wieder Kampagnen, welche die Beschränkung oder gar das Verbot von Spekulation zum Ziel hatten. Anlass waren meist drastische Preiserhöhungen, während die für die Produzenten schmerzhaften Preissenkungen (aktuell befinden wir uns übrigens in einer solchen Phase) nur selten zu analogen Initiativen geführt haben. Eine seltene Ausnahme war das Verbot des Terminhandels von amerikanischen Zwiebeln. Nachdem der Kontrakt an der Chicago Mercantile Exchange 1955 von einem Hoch von 2,5 Dollar je Sack auf 15 Cent gefallen war, löste das eine Kongress­debatte und im Mai 1958 schließlich das Terminhandelsverbot durch ein Gesetz aus. Dass der Börsenhandel die Preisschwankungen bei Zwiebeln tatsächlich erhöht hatte, wurde freilich niemals belegt. Für das Gegenteil nennt David S. Jacks in einer 2005 erschienenen Studie schlüssige Argumente: etwa, dass Zwiebelpreise schon vor der Eröffnung des Terminhandels beträchtlichen saisonalen Schwankungen unterlagen und dass jene sich in den drei Jahren nach dem Handelsverbot volatiler entwickelt hatten als in den drei Jahren davor.

Nun kann man sich ein Leben ohne Zwiebeln wahrscheinlich selbst in Texas theoretisch vorstellen, weshalb der Zwiebel-Future ein zwar oft zitiertes aber sowohl bei ökonomischer als auch politisch-ethischer Betrachtung am Rand angesiedelt ist. Bei Grundnahrungsmitteln wie Weizen, Mais und Soja ist die Nachfrage dagegen weit weniger elastisch; auf diesen Märkten gerät die Spekulation daher besonders häufig in das Fadenkreuz von öffentlicher Meinung und Politik – wahrscheinlich das erste Mal mit dokumentierten Folgen im Deutschen Kaiserreich der 1890er-Jahre.

Das Reichsbörsegesetz

Nach langem Tauziehen im Reichstag, in dem so ziemlich alle Argumente für und wider ausgetauscht wurden, die man bis heute immer wieder hören kann, verbot das am 1.1.1897 in Kraft getretene „Reichsbörsengesetz” den Terminhandel mit Getreide und Mühlenprodukten. Davon betroffen war in erster Linie die Berliner Produktenbörse, deren Existenz damit faktisch beendet wurde. Schon bald war aber klar, dass die gewünschten Effekte nicht eingetreten waren und ein – wenn auch beschränkter – Handel konnte ab April 1900 wieder stattfinden.

Jacks untersuchte auch diesen historischen Fall, indem er die Periode vor dem Verbot, während dessen Gültigkeit und nach der teilweisen Wiedereinführung des Terminhandels untersuchte. Das wichtigste Ergebnis: In der Zeit des Handelsverbots explodierte nicht nur der Weizenpreis selbst, sondern auch dessen Volatilität. Diese war in der Zeit ohne Terminhandel um 1,5 mal höher als in den drei Jahren davor und sogar um 2,6 mal höher als in den drei Jahren danach – ein Phänomen, das im selben Zeitraum an den beiden anderen großen Handelsplätzen für Getreide, Liverpool und New York, nicht auftrat.

Eine Flut an Studien

Heute dürfte der Zusammenhang zwischen dem Rohstoffhandel auf liquiden Terminmärkten und der Preisentwicklung bzw. der Preisvolatilität erschöpfend untersucht sein. Eine Flut von Studien ist allein in den letzten zehn Jahren erschienen und derart umfangreich, dass bereits Meta-Studien darüber angestellt wurden. Eine der aktuellsten mit Veröffentlichungsdatum September 2015 entstand in Zusammenarbeit dreier Ökonomen unter der Federführung der Wirtschaftsprofessorin Yvonne Seiler Zimmermann an den Universitäten Basel und Luzern.

„Metastudie_100” wertet 100 neuere Arbeiten aus, die vorwiegend nach 2008 datieren und den Einfluss der Spekulation auf fünf preisabhängige Variablen untersuchen – eine komplexe Aufgabe, da die Autoren bereits auf sehr unterschiedliche Methoden stießen, mit denen die einzelnen Arbeiten versuchten, „Spekulation” zu definieren, darunter auch solche, die überhaupt darauf verzichteten. Andere versuchten es mit Annäherung (z.B. das Auftreten von Variablen, die man allgemein „spekulativem” Verhalten zuschreibt). Nur eine Gruppe der Studien operierte dagegen auf Basis der expliziten Spekulationsmasse aufgrund der Zuordnung von Marktteilnehmern als Spekulanten durch Aufsichtsbehörden (in Abgrenzung von „Hedgern”, die ihre physischen Rohstoffpositionen absichern). Zusätzlich klopften die Autoren die verwendeten statistisch-mathematischen Modelle ab. So ergab sich schließlich eine qualitative Sortierung der Arbeiten in vier Stufen.
Über alle 100 hinweg findet die Metastudie „keine Evidenz für mehrheitlich abschwächende oder verstärkende Effekte” von Spekulation. In den Arbeiten der beiden oberen Qualitätsstufen fanden die Studienautoren einen leichten Überhang verstärkender Effekte lediglich bei dem nicht sehr liquiden Rohstoff Kakao, während bei Zucker, Schweinebäuchen, Sojabohnen, Kaffee, Mais und Weizen abschwächende Effekte durch Spekulation dominierten. Das Resümee der Metastudie: „Unabhängig von den analysierten Rohstoffen und den angewandten Selektionskriterien für die Studien ist der ökonomische Einfluss der Spekulation gering.”
Seiler Zimmermann und ihre Mitautoren fügten der Vielzahl einschlägiger Untersuchungen zudem noch eine weitere hinzu („Commodity returns and their volatility in relation to speculation”), die einen besonders umfassenden Ansatz verfolgt: Mittels eines etablierten statistischen Verfahrens (Granger Test) untersuchten sie 28 unterschiedliche Rohstoffmärkte über einen Zeitraum von 2006 bis 2015. Das Ergebnis, auf den Punkt gebracht: Je mehr spekulative Aktivität vorhanden war, desto deutlicher wurde die Preisvolatilität gedämpft. Und: Lediglich in acht Prozent aller Beobachtungen fand sich überhaupt ein nachweisbarer Zusammenhang zwischen Spekulation und der Varianz von Preisbewegungen und Volatilität.

Eher beruhigend als störend

Rational betrachtet, müsste man auf der Basis dieser Ergebnisse den Akt schließen und ein für allemal konstatieren: Preisbewegungen auf Rohstoffmärkten sind durch die klassischen Faktoren Angebot, Nachfrage und Zukunftserwartungen der Marktteilnehmer befriedigend erklärt, und spekulativer Handel, so er überhaupt einen Einfluss nimmt, wirkt in turbulenten, von Unsicherheit getriebenen Marktphasen eher beruhigend als störend. Aber den Betreibern der Schweizer Volksabstimmung über den Spekulationsstopp und ähnlichen Initiativen geht es nicht um Fakten, sondern um Deutungs­hoheit. Oder etwas spitzer formuliert: Nicht um Wissenschaft, sondern um Religion. Die aber sollte im aufgeklärten Staat des 21. Jahrhunderts Privatsache sein.

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