Never mind the punks, here’s the Salafis
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Die meisten charismatischen Salafisten sind keine ausgebildeten Theologen und reden auch nicht so – sondern in Jugendsprache und deutsch (Bild: li. Salafis­tenprediger Pierre Vogel 2014 bei einer Demo im deutschen Offenbach).
PRIMENEWS 02.06.2015

Never mind the punks, here’s the Salafis

Jede Provokation ist schon mal dagewesen. Und wird sogar von den eigenen Eltern praktiziert. Es gibt kiffende Lehrer und Eltern mit Piercings, First Ladies sind tätowiert, Berühmtheiten tragen Irokesen. Alle Kombinationen von Sex, Rauschmitteln und Musik hat es schon gegeben, die einst größtmögliche Provokation, „Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll”, findet sich heute auf Ü40-Partys. Wenn die Eltern, und oft sogar schon die Großeltern, ,born to be wild' sind, wie sollen, wie können Jugendliche dann noch provozieren?

Provokation durch Askese

Die historisch wohl einmalige Antwort: durch Askese. In einer Zeit, in der vielfältige Konsumangebote für jedes Bedürfnis vorliegen und mit Sexualität offen umgegangen wird, ist die größte Provokation und die radikalste Abgrenzung vom Mainstream beziehungsweise von der Mehrheitsgesellschaft die Enthaltsamkeit im Kollektiv.
Und die krasseste Weise, in der man dies öffentlich machen kann, ist – als Salafist. Die alltagspraktische Funktion eines Kopftuchs oder eine Salafistenbarts weist viele Ähnlichkeiten mit der Sicherheitsnadel im Ohr oder dem Irokesen auf dem Kopf der 1970er-Punks auf: Man wird erkannt, erntet skeptische Blicke, offene Ablehnung, tiefe Verachtung und erzeugt Angst. Zwar wären die gleichen Äußerlichkeiten z.B. im Iran völlig konventionell und schützten geradezu vor Repression – aber in Mitteleuropa machen sie auffällig und führen fast automatisch zu Problemen – wie es sich für Zutaten einer Rebellion gehört.
Um nachzuvollziehen, wie diese wachsende Anziehungskraft bei Jugendlichen generiert wird, wurden im Rahmen einer qualitativen Studie teilnehmende Beobachtungen bei verschiedenen Anlässen durchgeführt sowie (Gruppen-)Diskussionen und Gespräche mit Jugendlichen, die sich selbst als „Salafiyya” bezeichnen. Dass Jugendliche anfällig für extreme Positionen sind und das eine oder andere Mal über die Stränge schlagen, ist bekannt. Zudem ist die Jugendphase dadurch geprägt, dass vergleichsweise wenig Verantwortung übernommen werden kann, wodurch es zumindest keinen strukturellen „Zwang zum Pragmatismus” gibt. Hinzu kommen eine noch nicht vollständig ausgereifte Impulskontrolle, eine höhere Risikobereitschaft sowie das Bedürfnis, sich von der Elterngeneration abzugrenzen. Entsprechend überrascht es nicht, dass Jugendliche anfällig für radikale politische Ideologien und religiöse Strömungen sind.
Alle salafistischen Gruppen sind extrem jung. Die meisten arabisch- und türkischstämmigen Salafisten kommen aus wenig religiösen Familien, sie haben nur einen abs-trakten muslimischen Hintergrund. Ihr Provokationspotenzial wirkt also doppelt: nicht nur gegen die Mehrheitsgesellschaft, die sie ausgrenzt, sondern auch in die eigene Community hinein – gegen die eigenen Eltern.

Wenig Islam-Hintergrund

Salafistische Jugendgruppen bieten zum einen die Provokation der kollektiven Askese, zum anderen die Provokation der ideologischen Nostalgie. Askese und Nostalgie sind in zeitgenössischen Trends durchaus auffindbar – meist im Kontext von kapitalismuskritischen Bewegungen. Aber anders als in anderen Subkulturen, sind diese beiden Provokationen schicht-übergreifend, nachvollziehbar und realisierbar. Dass Jugendliche in prekären Lebenslagen aufgrund fehlender Zugehörigkeit und Anerkennung für Salafisten zugänglich sind, erscheint plausibel. Deutlich komplexer ist die Erklärung bei Studierenden. Bei allen Gesprächen mit Studierenden, die sich als Salafisten bezeichnen, wurde festgestellt, dass es sich um Aufsteiger handelt, also um junge Menschen aus einem Arbeiter- bzw. Unterschichtshaushalt. Bildungsaufsteiger zeichnen sich dadurch aus, dass sie in einer Zwischenposition stehen: Einerseits entfernen sie sich vom Herkunftsmilieu und verlieren soziale Netzwerke, andererseits ist die Integration in höheren Milieus dauerhaft problematisch.
Diskriminierungs- und Ausschlusserfahrungen sowie beständige Differenzerfahrungen haben in diesen Fällen eine Rückbesinnung auf die eigenen habituellen und religiösen Wurzeln begünstigt. Während die Punkszene durch ihre gesellschaftskritische Haltung und eine Negierung von Körper- und Geschlechterverhältnissen besonders Mittelschichtskinder anzieht, wird in der Gangsta-Rap-Szene genau das Gegenteil präferiert, indem soziale Hierarchien und körperliche Stärke sowie ungleiche Geschlechterverhältnisse hier auf extreme Weise fortgeführt werden, wodurch sich die hohe Anziehungskraft für Unterschichtskinder erklären lässt.

Provokation und Klarheit

In gewisser Weise bietet der Salafismus eine Kombination aus einer radikal gesellschaftskritischen Haltung und sichtbarer Provokation auf der einen Seite und einer extremen Klarheit auf der alltags-praktischen Handlungsebene andererseits.
Die Askese selbst übt zugleich nach innen und nach außen eine gewisse Faszination aus. Der weitgehende Verzicht führt teilweise dazu, dass den Jugendlichen auch von nicht streng religiösen Menschen Respekt entgegengebracht wird. Aber anders als z.B. bei Veganern oder konsumkritischen Gruppen, beschränkt sich bei Salafisten der Verzicht nicht auf einen Lebensbereich, sondern er erfasst praktisch ihren gesamten Alltag. Der „entfesselten Spaßgesellschaft” der Umwelt wird ein Gegenentwurf gegenübergestellt, in dem alles abgelehnt beziehungsweise umfassend reglementiert wird, was als jugendtypisch gilt: Konsum, Sexualität, ausgelassenes Feiern. Bei den befragten Frauen kam zudem noch ein auf Anhieb überraschendes Motiv hinzu: Emanzipation. Praktisch alle kamen aus türkischen und arabischen Milieus, die nicht religiös, sondern traditionell-konservativ sind: In diesen Familien dürfen die Jungen alles, die Mädchen nichts. Bei den Salafisten dürfen die Mädchen zwar immer noch nichts – aber die Jungen dürfen auch nichts! Entsprechend erleben viele junge Frauen in dieser Jugendbewegung ein höheres Maß an Gleichstellung. Die asketische Orientierung gegen den Mainstream hat erkennbare Züge von Gesellschaftskritik und stärkt das Kollektiv. Die Erfahrung von Gemeinschaft, von familienähnlicher Solidarität und engen Freundschaften stärkt angesichts brüchiger solidarischer Strukturen in der Mehrheitsgesellschaft die Bindung nachhaltig. Dieses Zugehörigkeitsgefühl kann als substanzieller Bestandteil der Attraktivität begriffen werden. Das selbstbewusste Auftreten und die Sichtbarkeit der Zugehörigkeit (Bärte und Kopftuch) führen natürlich nicht nur zu Anerkennung, sondern auch zu (extremer) Ablehnung. Diese Ablehnung ist jedoch bereits antizipiert: Ähnlich wie bei den Punks, ist auch bei Salafisten bereits vor Eintritt in die Gruppe bekannt, dass die sichtbare Zugehörigkeit in der Mehrheitsgesellschaft – und nicht nur dort – zu offener Ablehnung führen wird. Es ist geradezu erwünscht, dass diejenigen, gegen die man sich stellt, der Gruppe gegenüber feindselig eingestellt sind. Der Gegenentwurf der Salafisten ist denkbar einfach: In der Vergangenheit liegt der Generalschlüssel – eine neue Zukunfts-idee gibt es nicht. Allerdings gibt es eine solche nirgendwo. Unsere Visionen sind bestenfalls technologischer Art. Nicht einmal zukunftsweisende Jugend- oder Protestbewegungen lassen sich derzeit erkennen. Wir sind aufgeklärte Verwalter von Klimawandel, Wirtschaftskrisen, Konsumterror. Wer diesen Pragmatismus nicht annehmen kann oder will, muss nostalgisch werden: Neopuritanismus, Naturreligionen, Esoterik, Bionahrung oder Yoga sind sämtlich Ich-bezogene Formen der Sinnsuche. Der Salafismus als Wir-bezogene Form bietet für Orientierungssuchende eine kollektive Strategie aus einem Guss: zurück in die Zeit, in der alles vermeintlich gut war, zurück zu den Wurzeln – klare Regeln, eindeutige Zugehörigkeiten, unhinterfragbare Wahrheiten und gar der sichere Weg zum Paradies.

Lösung für alle Probleme?

Natürlich ist eine solche strikte Rückwärtswendung wie die Orientierung an der Frühzeit des Islams für Jugendkulturen unüblich. Allerdings gibt es gesamt kaum noch zukunftsweisende ideologische Angebote oder Protestbewegungen – und was es gibt, wie die Occupy-Bewegung, basiert auf komplexen Ideen, die bisher nur Jugendliche der Mittel- und Oberschicht ansprechen.
Zudem bietet der Salafismus auf den ersten Blick eine Lösung für die großen Probleme der Gegenwart. So scheint etwa die Vorstellung, dass alle Weltprobleme nicht existierten, wenn alle Menschen nach dem „echten” Glauben leben würden, für Jugendliche äußerst attraktiv zu sein. Das gibt eine starke Orientierung und kanalisiert den jugendtypischen Handlungsdrang in eine Richtung: das Missionieren. Wer das mitmacht, kann sich als Avantgarde sehen, als Teil eines sich selbst als progressiv verstehenden globalen Projekts. Askese und Nostalgie, gepaart mit einem selbstbewussten kollektiven Auftreten, bedeuten heute Rebellion. Mit einer eigenen Ästhetik, eigenen Alltagsritualen und großer Technologieaffinität ist es dann doch keine vollständige Reproduktion des Gewesenen – es geht um Orientierung und Anerkennung, nicht um theoretische und theologische Diskurse. Dagegen sehen die großen Islamverbände blass aus – konventionell, defensiv und langweilig.

Jugendaffine Prediger

In salafistischen Moscheen sprechen die Prediger Themen an, die junge Menschen interessieren: Sexualität, Probleme in der Schule, Rassismus, Ausgrenzung – Themen, die in anderen Moscheen keine Rolle spielen. Die meisten charismatischen Salafisten sind auch keine ausgebildeten Theologen, und sie reden auch nicht so – sondern in Jugendsprache und auf Deutsch.
Zudem machen sie ein Angebot, das wenige gesellschaftliche Akteure machen: Du kannst sofort neu anfangen! An einem Stand, an dem der Koran verteilt wird, stehen Leute, die vielleicht vor einer Woche konvertiert sind – und missionieren schon. Für junge Menschen, die bisher wenig Anerkennung erfahren haben, ist das extrem attraktiv. Die historisch einmalige Konstellation, als junger Mensch mit radikaler Askese und Nostalgie provozieren zu können, bietet einen Resonanzboden für ausgegrenzte Jugendliche. Wer nicht teilhaben kann oder sich ohnehin ausgegrenzt fühlt, gibt nicht viel auf, wenn er sich einer radikalen Gruppe anschließt. Im Gegenteil: Aus dem Gefühl der Ohnmacht wird Selbstbestimmtheit und Stärke. Entsprechend lässt sich vermuten, dass ungleiche Teilhabechancen auf der einen und Islamfeindlichkeit auf der anderen Seite das Provokationspotenzial steigern und zu einer Attraktivität beitragen werden. Die Muslime innerhalb Europas zu isolieren, war ein zentrales Ziel der internationalen Terrorgruppen. Diese Strategie war erfolgreich. Den Nährboden für Radikalisierungsprozesse auszutrocknen, ist eine große Herausforderung. Die Menschen und ihre Religion als Fremdkörper zu betrachten, war eine – wenn auch nicht die einzige – Ursache.

Spaltung der Bewegung

Wie Jugend und Provokation auf Dauer zu einer ultrakonservativen Strömung passen, bleibt zu beobachten. Abspaltungen sind wahrscheinlich. Diese kennen wir aus vielen Bewegungen. Wenige werden Terroristen, einige sympathisieren gewaltlos, die meisten bleiben ungefährlich. Doch eines haben sie in jedem Fall erreicht: Wir interessieren uns für sie – und damit für einen Teil unserer Gesellschaft, den wir zuvor praktisch nicht wahrgenommen haben.


Dies ist ein leicht gekürzter Artikel aus dem
GDI-Impuls 5.0.
http://www.gdi.ch/de/gdi-impuls

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