Post-Digital
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PRIMENEWS 12.06.2015

Post-Digital

Double-Bound Kein Händler kommt mehr um die Vernetzung von offline mit online, ­analog mit digital und virtuell mit lokal herum. Doch Menschen bleiben physische Wesen und legen Wert auf persönliche Ansprachen und Betreuung.

Die Digitalisierung der Handelslandschaft ist in vollem Gange; die Marketing-Buzzwörter dazu lauten Cross-, Multi- oder gar Omni-Channeling: alle Kommunikationskanäle zum Kunden adäquat und effizient zu nutzen.

Obwohl Vernetzung viele Möglichkeiten eröffnet und künftig zur Selbstverständlichkeit wird, ist sie doch nicht alles. Denn Menschen als physische Wesen legen auch künftig Wert auf persönliche Ansprachen und Betreuung im Einzelhandel.

Hyperpersonalisierung

Vor allem Online-Retailer arbeiten bereits heute an neuen Strategien und Geschäftsmodellen, Online-Shopping zu einem Erlebnis zu machen. Die meisten Konsumenten kaufen vor allem deswegen online ein, weil es für sie bequem ist. Sie können von der heimischen Couch oder unterwegs in der Straßenbahn zu jeder Tages- oder Nachzeit ihren Einkauf tätigen. Inspiriert oder persönlich angesprochen werden sie hierbei in den seltensten Fällen. Doch die Nutzung der immensen Datenmengen, die inzwischen im Web kursieren, bietet dem Handel neue Möglichkeiten, Kunden in ihrer Individualität zu erreichen.
Big Data erschließt neue Wege, den Online-Einkauf auf jeden einzelnen Konsumenten zuzuschneiden. Große Online-Händler wie Amazon oder Zalando setzen deswegen auf eine starke Technologieorientierung. Ihr Ziel ist es, ein hochgradig individualisiertes Shoppingerlebnis zu generieren: sei es mit Anticipatory Package Shipping, also dem Prozess, Waren bereits an ein nahegelegenes Lager zu verschicken, bevor der Kunde überhaupt eine Bestellung aufgegeben hat, oder mit dynamischem Preismanagement, mit dem die Preise mithilfe von Algorithmen an die tagesaktuelle Marktlage angepasst werden. Die Symbiose von Datenanalyse und Personalisierung wird im Trend zur Hyperpersonalisierung beschrieben.

Der Faktor Sicherheit

Doch Hyperpersonalisierung beinhaltet nicht nur das Sammeln und Analysieren von Daten. Datenschutz und Sicherheit gehen mit ihr einher und müssen von Anfang an Bestandteil der Verdatung des Shoppingerlebnisses sein. Leider ist das Vertrauen in Online-Shops schon heute unter Internetnutzern nicht sehr ausgeprägt: Laut des DsiN-Indexes des Vereins „Deutschland sicher im Netz” empfanden 2014 knapp 43 Prozent der Internetnutzer in Deutschland Online-Shopping als eher gefährlich bis sehr gefährlich. Aus diesem Grund wird die Gewährleistung der Sicherheit zur Schlüsselaufgabe im eCommerce.
Denn mit dem Sammeln von Daten, um eine zielgeneue Kundenansprache zu ermöglichen, wird auch die Zahl an Hackerangriffen auf diese Unternehmen steigen – schon heute sind Online-Shops ein beliebtes Ziel von Hackerattacken. Künftig haben die Sicherheit beim Einkauf sowie der Schutz persönlicher Daten einen ähnlichen Stellenwert wie Preis und individuelle Ansprache.

Global klicken, lokal kaufen

Das Internet bietet Händlern nicht nur die Möglichkeit, neue, geografisch ferne Märkte zu erschließen, sondern vor allem Konsumenten in der Nähe anzusprechen. Laut einer aktuellen Studie suchen neun von zehn Google-Nutzern regelmäßig nach lokalen Angeboten. Insgesamt haben circa 20 Prozent der mehr als 100 Milliarden monatlichen Suchanfragen auf Google einen lokalen Bezug – Grund genug für stationäre Einzelhändler, das Internet als real-digitale Erweiterung der Einkaufsstraße zu nutzen.
Denn inzwischen haben zahlreiche Untersuchungen gezeigt, dass das sogenannte Showrooming – sich im Laden informieren und beraten lassen, um dann schlussendlich online zu kaufen – ein Mythos ist. Local Commerce beschreibt die zahlreichen Innovationen eines wiedererstarkten stationären Einzelhandels, der auf die Vorteile der Vernetzung vertraut. Lokale Suchmaschinen und Online-Schaufenster bieten Nutzern einen Überblick über Einzelhändler in der Nähe. Lokale Online-Marktplätze ermöglichen den Konsumenten darüber hinaus den Online-Einkauf von Produkten. Diese werden von speziellen Einkaufsdiensten dann direkt nach Hause geliefert oder können beim Händler vor Ort abgeholt werden. Digitale Marktplätze können aber auch dazu dienen, Einzelhändler vor Ort an einen Tisch zu bringen und das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. „Kooperation statt Konkurrenz” lautet das Motto, um den Konsumenten ein inspirierende Einkaufserlebnis und vitale, vielfältige Innenstädte zu bieten. Zukunftschancen liegen vor allem in Gemeinschaften, die auf eine Zusammenarbeit von Kommunen und lokal ansässigen Einzelhändlern bauen.

Renaissance der Märkte

Dass das Lokale beim Einkaufen an Einfluss gewinnt, zeigt auch die wachsende Beliebtheit von Märkten oder Street-Food-Festivals. In Zeiten des unpersönlichen Konsums versprechen Märkte ein soziales und kulturelles Erlebnis. Wer auf dem Markt einkauft, kann sich Zeit lassen. Das Gespräch mit dem Verkäufer gehört ebenso dazu wie das Testen von Produkten. Und nicht selten kann um den Preis gefeilscht werden. All dies ist undenkbar in Discountern oder Filialen internationaler Ketten, wo Selbstbedienung, Festpreise und schnelle Abfertigung an der Kasse den Takt angeben. Inzwischen werden Märkte nicht mehr nur für ihren Treffpunktcharakter geschätzt, sondern sie gelten als wichtiger Bestandteil vitaler Innenstädte. Bereits 2012 startete in Großbritannien die Kampagne „Love your local Market” mit dem Ziel, Märkte aller Art wiederzubeleben. Alle Street Markets – die Themenpalette reicht von Food über Vintage bis hin zu Jugend – können mitmachen, die Kampagne weiterverbreiten und für sich und andere werben. 2015 nahmen über 2.000 Märkte in 16 Ländern teil, um den zentralen Event von Love your local Market im Mai zu feiern.
Die wachsende Anzahl an Street- Food-Festivals verwandelt den Marktplatz in eine Event-Location. Neben den Märkten für Lebensmittel und kulinarischen Köstlichkeiten haben auch Trödelmärkte hierzulande eine lange Tradition. Doch Flohmärkte sind längst nicht mehr verstaubte Treffpunkte für Trödelsammler oder Second-Hand-Liebhaberinnen, sondern sprechen als Design- oder Kreativmärkte eine junge, lifestyleorientierte Zielgruppe an. Der Besuch solcher Märkte – wie z.B. der Fesch’markt in Wien – wird immer mehr zum festen Bestandteil der Freizeitkultur der urbanen kreativen Klasse. Mit frischen Konzepten werden Märkte zu Konsum-Hotspots, an denen Handel, Event- und Gastronomiebranche verschmelzen und von neuen Hybridkonzepten profitieren können.

Experiment Authentizität

Lokalität spielt zudem eine große Rolle im neuen Authentizitätsversprechen international agierender Handelsunternehmen. Sie suchen nach Wegen, sich in Orte zu integrieren und vom Spirit einer Stadt zu profitieren. Regionalität bildet den krassen Gegenentwurf zu globalen Marken und Retailern und kann eben genau durch diesen Widerspruch zu einen aufregenden Einkaufserlebnis führen. Doch Authentizität geht weit über eine glaubwürdige Markeninszenierung hinaus. „AuthentiCity” beschreibt den Trend der Verschmelzung von Markenidentität mit der Identität einer Stadt zum gegenseitigen Vorteil.
Das Konzept der Lifestyle Stores und Nachbarschaftsläden versteht den Store als Ort, an dem sich Menschen, die Teil dieser Community sind oder sein wollen, gern aufhalten. Häufig beinhalten diese Läden auch eine Hommage an die Stadtkultur oder den jeweiligen Kiez, in dem sie sich befinden. Mit den Maximen Echtheit und Authentizität erreichen Retailer und Marken vor allem urbane Avantgarde-Kundengruppen, die mehr vom Handel erwarten als Preisschlachten und Produktvielfalt.

Fazit

Die Digitalisierung bleibt auch künftig ein wichtiger Treiber für den Handel. Doch ihre Ausformungen werden immer mannigfaltiger und komplexer. Der scheinbar übermächtige Online-Handel sucht nach neuen, technologiebasierten Innovationen, um dem Online-Shopping eine individuellere und persönlichere Note zu geben. Auf der anderen Seite zeigen sich stationäre Einzelhändler selbstbewusst und nutzen das Internet, um die Kunden wieder an den PoS zu locken. Und bei den Konsumenten stellt sich aktuell eine digitale Müdigkeit ein, die dafür sorgt, dass Handel und Verkaufen an Treffpunkt- und Eventcharakter gewinnen. Die Kommunikation von Mensch zu Mensch tritt wieder in den Mittelpunkt.

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