Für den Müll ­produziert?!
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RETAIL Nataša nikolić 08.04.2016

Für den Müll ­produziert?!

Um die Lebensmittelabfälle bis 2030 zu halbieren, müssen ­Handel, Konsumenten und Industrie anpacken.

••• Von Nataša Nikolic

In Österreich landen pro Jahr 756.700 Tonnen Lebensmittel im Abfall – mehr als die Hälfte davon gilt als vermeidbare Abfälle; d.h., dass sie zum Entsorgungszeitpunkt noch uneingeschränkt genießbar sind. Neben den Haushalten (mit 276.000 t), lassen auch der Handel (110.000 t) und die Außer-Haus-Verpflegung (280.000 t) den Müllberg zu einem beträchtlichen Teil steigen. Laut dem EU-finanzierten Projekt zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen, mit dem Namen Fusions, produzieren die 28 Mitgliedsstaaten etwa 88 Mio. t an Nahrungsmittelabfällen im Wert von geschätzten 143 Mrd. € jährlich. Der größte Anteil würde auf die privaten Haushalte (47 Mio. t) sowie auf die Gastronomie und den Handel entfallen. Diese Daten umfassen sowohl essbare als auch nicht essbare Lebensmittel (z.B. Orangenschalen).

Sofortige Verluste

Wie hoch der Anteil der Lebensmittelabfälle ist, die in Österreich von Landwirtschaft und Produktion verursacht werden, wisse man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht, sagt Christian Pladerer vom Abfall- und Ressourcenmanagement des Österreichischen Ökologie-Instituts, einem Partner des Fusions-Projekts. Schätzungen zufolge können etwa 25% der Lebensmittelabfälle der Industrie bzw. Landwirtschaft zugeschrieben werden. In Großbritannien beispielsweise fallen geschätzte 30% der Gemüseproduktion noch auf dem Feld weg, da sie regulatorischen oder ästhetischen Vermarktungsstandards nicht entsprechen; und in der Schweiz würden, einer Studie von Foodways zufolge, zwei von drei Kartoffeln innerhalb der Wertschöpfungskette verloren gehen (303.000 t pro Jahr). „Es ist immer noch so, dass viele Lebensmittel nicht abgenommen werden können, weil sie Qualitätskriterien und Normen nicht entsprechen, die gefordert werden“, sagt Friederike Klein (WWF Österreich) und fordert, dass alle Akteure der gesamten Wertschöpfungskette diese Kriterien und ihre Notwendigkeit gemeinsam hinterfragen.

Neben Qualitätskriterein tragen in der Landwirtschaft weitere Faktoren einen Teil zur Lebensmittelverschwendung bei. Dazu gehören, neben unvorhersehbaren Wetterbedingungen und Witterungsschäden, mangelnde Lagerfähigkeit, Schädlinge sowie Verluste bei den einzelnen Verarbeitungsschritten. Die genauen Abfall-Zahlen in der heimischen Produktion prüft derzeit eine Studie; für den Bereich Landwirtschaft sei momentan keine Datenerhebung geplant, sagt Pladerer, der die neuesten aufrüttelnden Ergebnisse Ende März gemeinsam mit Friederike Klein und Hildegard Aichberger (Initiative Mutter Erde) in Wien präsentierte. Die bisherigen Aktivitäten gegen Lebensmittelverschwendung in Österreich sind u.a. die von den Sozialpartnern unterstützte Initiative „Lebensmittel sind kostbar“ und „United Against Waste“. Diese waren in den vergangenen Jahren bemüht, das Bewusstsein der Konsumenten und Gastronomen für Lebensmittel zu stärken. Dennoch ist es bisher nicht gelungen, das Problem gesamthaft zu adressieren – dafür bedarf es eines ressortübergreifenden Ansatzes und einer klaren Datenlage. „Eine genaue Angabe von Lebensmittelabfällen und -verlusten für ein Land wie Österreich ist immer noch nicht ohne Einschränkungen möglich. In vielen Fällen ist man auf die Methode ,Schätzungen‘ angewiesen; hier besteht substanzieller Forschungsbedarf. Dieser sollte sich aber nicht nur auf die bessere Quantifizierung der Lebensmittelabfälle und -verluste beschränken; vielmehr sollten auch die Gründe für Lebensmittelabfälle und -verluste Forschungsgegenstand sein“, fordern der WWF Österreich
und Mutter Erde in einer Aussendung.

Klare Strategie & Zuständigkeit

Die langfristige Handlungsempfehlung der beiden Organisationen ist die Erstellung einer nationalen Strategie mit dem Ziel, die Lebensmittelabfälle bis 2030 zu halbieren. Dafür müsste vor allem eine klare politische Zuständigkeit definiert sowie verbindliche Maßnahmenpakete und Reduktions­ziele beschlossen werden. Eine flächendeckende, regelmäßige Datenerhebung über die gesamte Wertschöpfungskette und jährliche Berichte sollen der Kontrolle dienen. Klein fordert auch eine Aufklärung der Konsumenten bezüglich des Mindesthaltbarkeitsdatums (MHD) von Lebensmitteln. „Es ist wichtig aufzuklären, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum nichts anderes ist, als eine Garantieerklärung. Wir setzen uns dafür ein, dass gewisse Lebensmittel vom Mindesthaltbarkeitsdatum ausgenommen werden.“ Dazu gehören zum Beispiel Salz, Mineralwasser, Mehl, Reis u.v.m.

Handel bezieht Stellung

Vom Handel fordern die Organisationen eine Offenlegung der Abfalldaten nach standardisierten Vorgaben und ihres Potenzials zur Weitergabe von genießbaren Lebensmitteln an soziale Einrichtungen. Kritisiert werden vor allem Multipack-Aktionen, bei denen Kunden ab zwei oder mehr Produkten Geld sparen können. „Dem Handel kommt beim Kampf gegen Lebensmittelverschwendung eine Schlüsselrolle zu“, sagt Aichberger. Qualitätskriterien des Handels seien es, die über entsorgte Mengen in Landwirtschaft und Produktion entscheiden würden. Außerdem hätte der Handel eine zentrale Verantwortung gegenüber den Konsumenten, die ja nicht zuletzt auf Preissignale des Handels reagieren.

medianet hat bei Österreichs Lebensmittelhändlern nachgefragt, wie sie Lebensmittelabfälle reduzieren und welche Maßnahmen sie setzen, um die große Zahl an entsorgten, aber vermeidbaren Lebensmittelabfällen zu senken. Unimarkt verzichtet beispielsweise auf Multipack-Aktionen: „Als Handelsunternehmen tragen wir Verantwortung. Wir wissen, dass ein Großteil der Produkte – speziell wenn diese eine begrenzte Haltbarkeit aufweisen – original verpackt weggeschmissen wird. Die Unimarkt Gruppe setzt daher bereits seit geraumer Zeit ein Zeichen und verzichtet im gesamten Sortiment auf Multipack-Aktionen“, heißt es aus dem Unternehmen. Auch Hofer hält nichts von derartigen Rabatten und gibt an, dass „nicht mehr verwertbare Lebensmittelüberschüsse weniger als 0,6 Prozent des Lebensmittelumsatzes“ betragen. Bei den 2.500 Rewe-Filialen ist es, nach eigenen Angaben, etwa ein Prozent des Gesamtumsatzes, und auch Spar gibt an, etwa ein Prozent der angebotenen Lebensmittel nicht verkaufen zu können.

MHD & Abverkauf

Einer der Gründe, wieso ein Produkt nicht mehr verkauft werden kann, ist das bereits kritisierte Mindesthaltbarkeitsdatum. Hat ein Produkt das MHD erreicht bzw. überschritten und wurde nicht verkauft, kommt es bei allen befragten Händlern in karitative Einrichtungen. „Auch danach kann die Ware meistens bedenkenlos noch verzehrt werden. Vorsicht ist aber bei Fleisch-, Wurst-, Eier-, ­Fisch­produkten u.ä. geboten“, so Rewe.
Derartige Organisationen gibt es erfreulicherweise viele: „In Wien holen beispielsweise Caritas und Team Österreich Lebensmittel ab, in Vorarlberg ist es der Verein ,Tischlein deck dich‘ und in Salzburg ‚Soma-Salzburg‘“, so Einzelhändler Spar. Auch Konkurrent Rewe spendet an Sozialmärkte: 85% der Billa-Filialen, 50% der Penny- und 100% der Merkur-Märkte geben regelmäßig abgelaufene, aber genießbare Waren ab. „In absehbarer Zeit sollen alle Märkte Kooperationen mit sozialen Einrichtungen haben.“ Außerdem setzt Rewe mit der Eigenmarke „Wunderlinge“ einen weiteren Schritt in die richtige Richtung. „Obst und Gemüse, das qualitativ einwandfrei ist, aber optisch nicht mehr so ansprechend aussieht, wird im Restaurant bzw. für die Merkur Eigenmarke ,Nach Art des Hauses‘ weiterverarbeitet. Teilweise werden solche Produkte auch in Billa-Filialen verarbeitet.“
„Restmengen, die wir aus bestimmten Gründen, wie etwa der verpflichteten Einhaltung der Kühlkette oder Hygienevorschriften, nicht spenden können, werden an unser Zentrallager retourniert; von dort aus werden sie als Biomasse zur Produktion von Biogas an einen Verwerter weitergegeben“, sagt Lidl. „Im Bereich Obst und Gemüse reduziert Hofer durch den verbilligten Abverkauf Restmengen auf ein Minimum. Sollte es dennoch vereinzelt zu Überschüssen kommen, wird das Obst und Gemüse karitativen Einrichtungen, landwirtschaftlichen Betrieben und Energieerzeugern (für Biomasse) zur Verfügung gestellt“, teilt Discounter Hofer mit.
„Lebensmittelverschwendung gleicht einem Systemversagen: keiner der Akteure will etwas wegwerfen aber aus unterschiedlichen Gründen passiert es trotzdem. Wir müssen dem an die Wurzeln gehen und wieder den Wert in unseren Lebensmitteln sehen. Die Lebensmittelverschwendung zu halbieren ist nur möglich, wenn alle Akteure sich diesem Ziel verschreiben und grundsätzliche Annahmen unseres Systems der Lebensmittelbereitstellung geändert werden“, fordert die Geschäftsführerin von Mutter Erde.

Wohin mit dem Essen?

„Wir haben ein Verteilungsproblem auf dieser Erde. In Österreich haben wir zwar kein akutes Hungerproblem, aber ein Armutsproblem. Über eine Million Menschen leben an der Armutsgrenze bzw. sind ­direkt arm,“ kritisiert Pladerer und begrüßt, dass es „wertvolle Einrichtungen wie die Wiener Tafel und andere Organisationen“ gibt, die noch genießbare Lebensmittel davor retten, dass sie entsorgt und an sozial bedürftige Menschen weitergeben werden, was auch alle befragten Händler, eigenen Angaben zufolge, praktizieren. „Der Handel entsorgt ca. 110.000 Tonnen an Lebensmitteln – das an die Lieferanten retournierte Brot eingeschlossen. Davon werden etwa 6.000 Tonnen an Sozialeinrichtungen weitergegeben. Da gibt es jedenfalls noch Luft nach oben“, bemängelt Aichberger.

Verluste in der Produktion

Neben dem Handel gibt es viele Abfälle auch in der Produktion. Dem Lagebericht zu Lebensmittel­abfällen und Verlusten des WWF Österreich und Mutter Erde zufolge entstehen Verluste in der Produktion u.a. durch technische Störungen im Betriebsverlauf, Unter- oder Übergewicht der Produkte, Fehl­etikettierung, Sortimentswechsel, Verpackungsneugestaltung, Transport- und Lagerungsschäden sowie Rückstellmuster für die Qualitätssicherung und Retourwaren.

Appell an die Konsumenten

„Der Grund für die Lebensmittelabfälle in privaten Haushalten ist der Warenzugang: Wir kaufen zu viel ein und wissen teilweise nicht, was wir im Kühlschrank haben, wir wissen nicht, wann das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, und wir machen auch zu wenig Planung, und all das führt dazu, dass unser Kühlschrank überläuft und genussfähige, original­verpackte Lebensmittel in unserer Mülltonne landen“, weiß Pladerer. Klein rät daher zum bewussten Einkaufen – vorausgeplant und gut überlegt. Gekauft wird demnach nur, was auch wirklich benötigt wird, und Mengenrabatte werden in Anspruch genommen, wenn sie sinnvoll sind. (Siehe auch Seite 46)

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